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Das Urteil des Salomo –
Raffael Santi, um 1512
 

Wortbrücke zum 6. August 2023

Recht oder Gerechtigkeit? – schauen wir auf Salomo!

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, so lautet ein steiler Satz aus der Bergpredigt im Matthäusevangelium, diesem mit der Lehre des Jesus von Nazareth so grundlegenden Bibeltext für das Zusammenleben der Menschen. Und doch, wir wissen, dass täglich nicht nur über Sachverhalte geurteilt, sondern auch Recht gesprochen wird. Es gehört zu den Urfragen der menschlichen Gesellschaft, die Vorstellungen von Einzelfallgerechtigkeit mit allgemeinen Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen. Im Rechtswegestaat bemühen sich viel juristischen Fachleute, dass vermeintlich „gute Recht“ der Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Manchmal gelingt es, manchmal aber setzt sich einer durch, während eine andere sich „entrechtet“ fühlt und sieht.

In der endlichen, fehlerhaften Welt, in der wir leben, wird es auch in einer liberalen und offenen Demokratie mit unabhängigem Rechtswesen trotz aller Anstrengung nicht immer gelingen, allen Menschen immer gerecht zu werden. Und trotzdem darf dieses Ziel nicht aufgegeben werden. Menschen, die eine höhere, göttliche Gerechtigkeit für möglich und auch wahr halten, somit an den gerechten Gott glauben, versuchen, im friedlichen Zusammenleben wie im Streit nach Möglichkeit auch die „berechtigten“ Interessen und Bedürfnisse der anderen, der einem gegenüberstehenden Menschen im Blick zu behalten. Vorurteile soll das Richten nicht leiten. Aber es muss im Miteinander im Hier und Jetzt auch irgendwann entschieden werden.

Der große König Salomo, der vor dreitausend Jahren ein absoluter Herrscher war, der aber zumindest versuchte, mit Gottes Hilfe Gerechtigkeit walten zu lassen und mit Weisheit zu entscheiden und zu regieren, erlebte auch die Spannung, die zwischen den Menschen immer schon bestand und besteht. Als er in seinem berühmten salomonischen Urteil beim Streit zweier Frauen um ein Kind befahl, das Kind zwischen beiden mit dem Schwert zu teilen, wirkt das auf den ersten Blick grausam und drastisch. Und doch, am Ende war Salomo weniger davon getragen, wer sich nun im Rechtsstreit „durchsetzt“, sondern vom Wohl der Hauptperson, in diesem Fall des Kindes. Er sprach in seinem Urteil dem Kindeswohl höhere Priorität zu als eine kalten Rechtsentscheidung nach „Aktenlage“. Weisheit und die Hoffnung auf Rechtsfrieden standen hinter einer solchen Entscheidung, deren tieferer Sinn im zweiten Blick deutlich wird. Ich bin sicher, trotz mancher drastischen Bilder: das Kind wäre nie geteilt worden, sondern stets ganz und gesund dorthin gegangen, wo es ihm am besten gegangen wäre. Und so geschah es auch.

Nun leben wir in einer anderen Zeit, aber die Frage nach Gerechtigkeit ist auch heute nicht weniger drängend. Nicht immer werden salomonische Urteile den Rechtsfrieden wahren und damit Recht und Gerechtigkeit in Einklang bringen können. Aber wir können es immer wieder versuchen und nach dem Vorbild eines Königs handeln, der sich auch seiner eigenen Begrenztheit bewusst war. Wir können als Menschen, die Gott die letzten Entscheidungen überlassen, danach streben, in unserm Handeln neben uns selbst auch die anderen Menschen auf dem Schirm zu behalten. Und wir können dabei hin und wieder auch über den eigenen Schatten springen. Nicht immer wird Gerechtigkeit gelingen, aber wenn sie gelingt, dann wird auch diese Erde, die so sehr auf den Fugen zu geraten scheint, in einem kleinen Punkt wieder mehr so, wie Gott sie – und damit auch uns – gedacht hat. Viele kleine Einzelpunkt können schließlich prägend und tragend werden. Und dann liegt auch auf schweren Entscheidungen Gottes guter und treuer Segen.

Stephen Gerhard Stehli, Domgemeindekirchenratsvorsitzender