Startseite   |   Impressum   |   Datenschutz    

Judas-Kapitell (um 1135)
Wallfahrts-Kathedrale
„Sainte-Marie-Madeleine“,
Frankreich


 

Wortbrücke der evangelischen Domgemeinde am 3. Sonntag nach Trinitatis; 25.6.2023

In Vézelay, einem Ort in Burgund, findet sich in der dortigen Kathedrale „Sainte-Marie-Madeleine“ ein einzigartiges Säulenkapitell. Es besteht aus zwei Szenen. Auf der einen Seite entdeckt man Judas mit aufgerissenen Augen und weit heraushängender Zunge, hilf- und wehrlos, am Strick an einem Baum hängen. Auf der anderen Seite des Kapitells sieht man, wie ein Mann Judas von seinen Verstrickungen löst und befreit, vom Baum genommen und auf seine Schultern gelegt hat. Nun trägt er ihn und bringt ihn nach Hause, wie ein guter und treuer Hirt das verletzte oder verlorene Schaf. In christlichen Medien habe ich entdeckt, dass Papst Franziskus in einer seiner Predigten auf dieses Kapitell einging. Daraufhin hat es Pro-teste in der katholischen Kirche gegeben: Das ist zu viel des Guten! Soweit darf Gottes Barmherzigkeit nicht gehen! Für Papst Franziskus steht außer Diskussion, dass der junge Mann, der Judas auf den Schultern trägt, Jesus ist. Wer sollte es sonst sein als der gute Hirte? Barmherzigkeit ist ein Geheimnis, und vor allem ist sie das Geheimnis Gottes.

Wie der unbekannte Steinmetz in großer künstlerischer und gläubiger Freiheit die tragische Judasgeschichte weitererzählt! Eindrucksvoller lässt sich die grenzenlose, unermessliche Barmherzigkeit Gottes nicht darstellen. Christus gibt Judas nicht auf, lässt ihn nicht hängen. Judas ist kein hoffnungsloser Fall, kein Leben ist endgültig verpfuscht. Niemand ist rettungslos verirrt und hoffnungslos verloren. Jesus verurteilt nicht, sondern richtet auf und rettet. Er schließt nicht aus, sondern nimmt an. Jesus legt sich Judas selber auf und trägt ihn. Was für eine Liebe! Welch großes Erbarmen! Zu Weihnachten singen wir: „Christ der Retter ist da“. Am 3. Sonntag nach Trinitatis singen wir: „Ich lobe meinen Gott der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe“.

Angesichts dieser Botschaft kann unser Herz ruhig werden und wir können darauf vertrauen, dass wir in allem, was wir zu tragen haben, selbst getragen, getröstet und bei Gott geborgen sind.

Thomas Lösche, Religionspädagoge